Mein Name ist Jens Schröder, ich bin Journalist und Daten-Analyst. Seit über 20 Jahren analysiere ich vor allem Daten aus der Medienbranche, seit über elf Jahren beim Branchendienst MEEDIA. Ich schreibe zudem den werktäglichen #trending-Newsletter und bin Mitbetreiber der Social-Media-News-Charts 10000 Flies.
Das Thema SARS-CoV2 hat mich von Beginn an sehr bewegt und interessiert. Auch aus Sicht des Daten-Analysten in mir. Der Grund: Zahlen spielen bei dem Problem und seiner Lösung eine entscheidende Rolle. Denn: Sämtliche Maßnahmen in zahlreichen Ländern der Erde haben das Ziel, die Zahl der Patienten gering zu halten, damit die Krankenhäuser und hier insbesondere die Intensivstationen nicht überlastet werden.
Auch die Medien stürzen sich daher massiv auf Daten, melden neue Zahlen von Infizierten wie Weltrekorde in der Leichtathletik. Wir werden mit täglichen Corona-Wasserständen aus allen Ländern der Welt versorgt, ohne dass wir die Zahlen gut genug einschätzen können.
Mein Problem an dieser Berichterstattung: Die Zahlen der Infizierten sind solang irreführend, solang die Dunkelziffer der Infizierten, die nicht getestet wurden, unbekannt ist. Interessante Studien in quasi abgeschirmten Systemen – einem Kreuzfahrtschiff und einem kleinen Ort in Norditalien – in denen sämtliche Bürger getestet wurden, haben gezeigt, dass 50% der Infizierten keinerlei Symptome gezeigt haben. Sie tauchen im Zweifel gar nicht in den offiziellen Statistiken auf.
In Medien und auf Dashboards mit Weltkarten werden zudem die Zahlen der Infizierten aus allen Ländern der Erde verglichen. Das Problem: Die Test-Strategie in den verschiedenen Ländern ist teilweise sehr unterschiedlich. Ein Beispiel: Von den 102.236 bekannten SARS-CoV2-Infektionen in Spanien (Stand: 31. März) lagen am gleichen Tag 51.418 mit COVID-19-Erkrankungen in einer Klinik. Ein dramatisch aussehender Anteil von 50,3%. In Portugal hingegen lagen von den 8.251 Infizierten (Stand: 31. März) nur 726 im Krankenhaus. Ein Anteil von 8,8% [Quelle für diese Zahlen: TU Berlin]. Die riesige Differenz zwischen 50,3% und 8,8% in benachbarten Ländern wird vor allem mit der Zahl der Tests zusammen hängen: In Portugal wurden bis zum 31. März 59.457 Tests durchgeführt, 8.251 davon waren positiv. Die Vermutung liegt also nahe, dass in Spanien vergleichsweise viel weniger getestet wurde und wenn, dann vor allem die bereits schwer Kranken. Folge: Die Dunkelziffer der Fälle ist sehr wahrscheinlich deutlich höher ist als in Portugal. Der tatsächliche Anteil der Krankenhaus-Patienten unter den Infizierten würde dann deutlich unter den offiziellen 50,3% liegen.
Solche Beispiele zeigen, wie unsinnig gerade internationale Vergleiche zwischen den quasi offiziellen Infektionen in unterschiedlichen Ländern sind.
Für mich ist daher eins klar: die Zahl der Infektionen kann und darf bei der Beurteilung der Lage in den Medien, aber auch in der Politik nicht die einzige Rolle spielen, solang die Dunkelziffer der unbekannten Infizierten nicht bekannt ist.
Deutlich relevanter sind die Zahlen der Patienten, die ins Krankenhaus müssen und vor allem derjenigen, die auf Intensivstationen behandelt werden müssen. Denn hier gibt es keine Dunkelziffer. Wenn jemand so krank ist, dass er auf eine Intensivstation muss, dann wird er auch dort landen. Zumindest so lang, wie die Stationen nicht überlastet sind. Die Dunkelziffer von schwer Erkrankten wird also klein oder sehr klein sein.
Obwohl die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) e.V. zusammen mit dem Robert Koch-Institut (RKI) und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) seit dem 20. März detaillierte Zahlen der Intensivstationen ermittelt und veröffentlicht, beachten Medien dieses „DIVI Intensivregister“ [Update vom 6. April: Das „Intensivregister“ ist auf die neue Adresse intensivregister.de umgezogen] bislang nur am Rande. Dabei sind es genau diese Zahlen, die zeigen, ob unser Gesundheitssystem gut aufgestellt ist, ob sich die Lage zuspitzt und ob das, was allgemein als „Flatten the Curve“ bezeichnet wird, durch die Maßnahmen wie Social Distancing, die Ausgangsbeschränkungen, etc. funktioniert.
(Grafik: Bundesregierung)
Ich archiviere die Zahlen des „Intensivregisters“ seit über einer Woche und finde die bisherigen Ergebnisse und Erkenntnisse sehr spannend. Daher möchte ich sie auf dieser neu eröffneten Website mit interessierten Lesern teilen – auch in der Hoffnung, dass vielleicht mehr Journalisten und Medien auf diese Zahlen schauen.
Das Zwischenfazit lautet dabei: Die Lage in Deutschland ist bisher noch sehr entspannt. Im Gegensatz zu Berichten aus Regionen in Italien, Frankreich oder den USA ist die Zahl der Intensivbetten hierzulande noch ausreichend und wird das vorerst auch bleiben.
Die 975 der 1.160 deutschen Intensivstationen, die bislang am freiwilligen „Intensivregister“ teilnehmen, meldeten am Donnerstag, 2. April, 28.443 Betten, von denen 17.049 frei sind oder innerhalb von 24 Stunden zur Verfügung gestellt werden können.
Hochgerechnet auf alle 1.160 Intensivstationen wären das 33.840 Intensiv-Betten, von denen 20.284 innerhalb von 24 Stunden frei bzw. verfügbar wären. Eine solche Hochrechnung muss aber mit gewisser Vorsicht betrachtet werden, da ich nicht weiß, ob vornehmlich kleine oder vornehmlich große Kliniken bisher nicht am „Intensivregister“ teilnehmen.
Sinnvoller für einen Vergleich auch mit den vergangenen Tagen, an denen weniger Kliniken teilgenommen haben, ist daher eine Umrechnung der freien Intensivbetten auf die Zahl der Stationen. Stand Donnerstag (2. April) finden sich in den 975 meldenden Intensivstationen im Durchschnitt 29,2 Betten, 17,5 davon sind frei oder innerhalb von 24 Stunden verfügbar,
Soweit die Grundgesamtheit, das also, was in der oben gezeigten „Flatten the Curve“-Grafik die „Kapazität des Gesundheitssystems“ darstellt, die möglichst nicht durch COVID-19-Patienten ausgereizt werden darf, damit das System nicht an seine Grenzen stößt und chaotische Verhältnisse wie in anderen Ländern bzw. einzelnen Regionen dieser Länder entstehen.
Das Ermutigende: Die Zahl sowohl der Betten pro Station, als auch der freien bzw. in 24 Stunden verfügbaren Betten pro Station schrumpft derzeit nicht: Am 25. März lagen die beiden Werte noch bei 26,4 Betten pro Station und 17,1 freien oder innerhalb von 24 Stunden verfügbaren Betten, am 2. April waren es schon 29,2 und 17,5. Trotz der COVID-19-Patienten steigen also die Zahlen der gesamten und der freien Betten noch an, da viele Kliniken noch dabei sind, ihre Kapazitäten auszubauen. Ein klares Indiz dafür, dass die Maßnahmen in Deutschland nicht zu spät kamen, sondern dem Gesundheitssystem und den Krankenhäusern viel Zeit gegeben haben, ihre Intensivstationen aufzurüsten, bereit zu machen für steigende Patientenzahlen.
Erfasst wird im „Intensivregister“ auch genau diese Zahl der COVID-19-Patienten. So wurden auf den 975 meldenden Intensivstationen am Donnerstag, 2. April, 2139 COVID-19-Patienten behandelt, also 2,19 Patienten pro Intensivstation. Insgesamt 1797, bzw. 1,84 pro Station davon mussten beatmet werden. Die Zahlen stiegen innerhalb der neun Tage von 1,21 auf 2,19 und von 0,64 auf 1,84. Die Gesamtzahl der Intensiv-Patienten hat sich innerhalb der neun beobachteten Tage also nichtmal verdoppelt. Sprich: Die Kurve der Intensiv-Patienten steigt deutlich flacher an als die offizielle Zahl der Infizierten. Auch ein exponentielles Wachstum ist noch nicht zu beobachten:
Nun bin ich Daten-Analyst ohne tiefgreifende medizinische Kenntnisse, doch mir erscheinen diese Statistiken und Vergleiche zum jetzigen Zeitpunkt als absolut positives und Mut machendes Zeichen dafür, dass das deutsche Gesundheitssystem noch deutlich von chaotischen Verhältnissen entfernt ist und sich im Rahmen der Möglichkeiten sehr gut auf den Ernstfall vorbereitet hat und noch vorbereitet. Daher die weiter steigende Anzahl der Betten.
Diese Erkenntnis ist aber – und das ist wichtig – eine Momentaufnahme. Da Infizierte erst nach einer gewissen Zeit so krank werden, dass sie in eine Klinik müssen oder gar auf eine Intensivstation – erste Studien sprechen von 10 Tagen vom Erkrankungsbeginn bis zur Behandlung auf der Intensivstation -, hinkt die Zahl der Krankenhaus-Patienten der Zahl der Infizierten automatisch nach. Zwar ist es so, dass sich die Kurven der offiziell Infizierten und der Intensiv-Patienten bisher deutlich unterschiedlich entwickeln, doch das muss eben nicht so bleiben.
Ich halte nichts von Prognosen, auch die vielen Modellrechnungen, von denen immer dann in Medien zu lesen ist, wenn sie besonders spektakuläre Ergebnisse liefern, sind nur eine möglicherweise etwas fundiertere Hellseherei. Daher erlaube ich mir keinen Blick in die Zukunft, werde nicht prognostizieren, wie es auf den Intensivstationen in zwei oder drei Wochen aussehen kann. Was ich allerdings tun werde ist, auf dieser Website ab sofort tägliche Updates zu den Zahlen aus dem „DIVI Intensivregister“ zu liefern, sowie weitere Erkenntnisse aus Datensätzen abseits der offiziellen Infiziertenzahlen.